Hauslektüre im Deutschunterricht
Didaktisierungsvorschlag zum Buch «Momo» von Michael Ende
Erstellt von Dr. Dana Bartosch, Ruth-Ulrike Deutschmann, Natalia Koslowa
Fortsetzung aus Nr. 01, 02, 03, 04, 05, 07, 08, 09, 10, 11, 12, 13, 14, 15/2009
Lesetext
Zwölftes Kapitel
Momo kommt hin, wo die Zeit herkommt
Momo stand in dem größten Saal, den sie je gesehen hatte. Er war größer als die riesigste Kirche und die geräumigste Bahnhofshalle. Gewaltige Säulen trugen eine Decke, die man hoch droben im Halbdunkel mehr ahnte als sah. Fenster gab es keine. Das goldene Licht, das diesen unermesslichen Raum durchwebte, kam von unzähligen Kerzen, die überall aufgesteckt waren und deren Flammen so reglos brannten, als seien sie mit leuchtenden Farben gemalt und brauchten kein Wachs zu verzehren um zu strahlen.
Das tausendfältige Schnurren und Ticken und Klingen und Schnarren, welches Momo bei ihrem Eintritt vernommen hatte, kam von unzähligen Uhren jeder Gestalt und Größe. Sie standen und lagen auf langen Tischen, in Glasvitrinen, auf goldenen Wandkonsolen und in endlosen Regalen.
Da gab es winzige edelsteinverzierte Taschenührchen, gewöhnliche Blechwecker, Sanduhren, Spieluhren mit tanzenden Püppchen darauf, Sonnenuhren, Uhren aus Holz und Uhren aus Stein, gläserne Uhren und Uhren, die durch einen plätschernden Wasserstrahl getrieben wurden. Und an den Wänden hingen alle Sorten von Kuckucksuhren und anderen Uhren mit Gewichten und schwingenden Perpendikeln, manche, die langsam und gravitätisch gingen und andere, deren winzige Perpendikelchen emsig hin und her zappelten. In Höhe des ersten Stockwerks lief ein Rundgang um den ganzen Saal, zu dem eine Wendeltreppe emporführte. Noch höher droben war ein zweiter Rundgang, darüber noch einer und noch einer. Und überall hingen, lagen und standen Uhren. Da gab es auch Weltzeituhren in Kugelform, welche die Zeit für jeden Punkt der Erde anzeigten, und kleine und große Planetarien mit Sonne, Mond und Sternen. In der Mitte des Saales erhob sich ein ganzer Wald von Standuhren, ein Uhr-Wald sozusagen, angefangen von gewöhnlichen Zimmerstanduhren bis hinauf zu richtigen Turmuhren.
Ununterbrochen schlug oder klingelte irgendwo ein Spielwerk, denn von allen diesen Uhren zeigte jede eine andere Zeit an. Aber es war kein unangenehmer Lärm, der dadurch entstand, sondern es war ein gleichmäßiges, summendes Rauschen wie in einem Sommerwald.
Momo ging umher und betrachtete mit großen Augen all die Seltsamkeiten. Sie stand gerade vor einer reich verzierten Spieluhr, auf der zwei winzige Figuren, ein Frauchen und ein Männchen, einander zum Tanz die Hand reichten. Eben wollte sie ihnen mit dem Finger einen kleinen Stups geben, um zu sehen, ob sie sich dadurch bewegen würden, als sie plötzlich eine freundliche Stimme sagen hörte: «Ah, da bist du ja wieder, Kassiopeia! Hast du mir denn die kleine Momo nicht mitgebracht?»
Das Kind drehte sich um und sah in einer Gasse zwischen den Standuhren einen zierlichen alten Herrn mit silberweißem Haar, der sich niederbückte und die Schildkröte anblickte, die vor ihm auf dem Boden saß. Er trug eine lange goldbestickte Jacke, blauseidene Kniehosen, weiße Strümpfe und Schuhe mit großen Goldschnallen darauf. An den Handgelenken und am Hals kamen Spitzen aus der Jacke hervor und sein silberweißes Haar war am Hinterkopf zu einem kleinen Zopf geflochten. Momo hatte eine solche Tracht noch nie gesehen, aber jemand, der weniger unwissend gewesen wäre als sie, hätte sofort erkannt, dass es eine Mode war, die man vor zweihundert Jahren getragen hatte.
«Was sagst du?», fuhr jetzt der alte Herr – noch immer zur Schildkröte gebeugt – fort. «Sie ist schon da? Wo ist sie denn?»
Er zog eine kleine Brille hervor, ähnlich der, die der alte Beppo hatte, nur war diese aus Gold, und blickte sich suchend um.
«Hier bin ich!», rief Momo.
Der alte Herr kam mit erfreutem Lächeln und ausgestreckten Händen auf sie zu.
Und während er das tat, schien es Momo, als ob er mit jedem Schritt, den er näher kam, immer jünger und jünger wurde. Als er schließlich vor ihr stand, ihre beiden Hände ergriff und herzlich schüttelte, sah er kaum älter aus als Momo selbst.
«Willkommen!», rief er vergnügt. «Herzlich willkommen im Nirgend-Haus. Gestatte, kleine Momo, dass ich mich dir vorstelle. Ich bin Meister Hora – Secundus Minutius Hora.»
«Hast du mich wirklich erwartet?», fragte Momo erstaunt.
«Aber gewiss doch! Ich habe dir doch eigens meine Schildkröte Kassiopeia geschickt, um dich abzuholen.»
Er zog eine flache, diamantenbesetzte Taschenuhr aus der Weste und ließ deren Deckel aufspringen.
«Du bist sogar ungewöhnlich pünktlich gekommen», stellte er lächelnd fest und hielt ihr die Uhr hin.
Momo sah, dass auf dem Zifferblatt weder Zeiger noch Zahlen waren, sondern nur zwei feine, feine Spiralen, die in entgegengesetzter Richtung übereinander lagen und sich langsam drehten. An den Stellen, wo die Linien sich überschnitten, leuchteten manchmal winzige Pünktchen auf.
«Dies», sagte Meister Hora, «ist eine Sternstunden-Uhr. Sie zeigt zuverlässig die seltenen Sternstunden an und jetzt eben hat eine solche angefangen.»
«Was ist denn eine Sternstunde?», fragte Momo.
«Nun, es gibt manchmal im Lauf der Welt besondere Augenblicke», erklärte Meister Hora, «wo es sich ergibt, dass alle Dinge und Wesen, bis zu den fernsten Sternen hinauf, in ganz einmaliger Weise zusammenwirken, sodass etwas geschehen kann, was weder vorher noch nachher je möglich wäre. Leider verstehen die Menschen sich im Allgemeinen nicht darauf, sie zu nützen und so gehen die Sternstunden oft unbemerkt vorüber. Aber wenn es jemand gibt, der sie erkennt, dann geschehen große Dinge auf der Welt.»
«Vielleicht», meinte Momo, «braucht man dazu eben so eine Uhr.»
Meister Hora schüttelte lächelnd den Kopf. «Die Uhr allein würde niemand nützen. Man muss sie auch lesen können.»
Er klappte die Uhr wieder zu und steckte sie in die Westentasche. Als er Momos erstaunten Blick sah, mit dem sie seine Erscheinung musterte, schaute er nachdenklich an sich hinunter, runzelte die Stirn und sagte: «Oh, aber ich habe mich, glaube ich, ein wenig verspätet – in der Mode, meine ich. Wie unaufmerksam von mir! Ich werde das sofort korrigieren.»
Er schnippte mit den Fingern und stand im Nu in einem Bratenrock mit hohem Stehkragen vor ihr.
«Ist es so besser?», fragte er zweifelnd. Aber als er Momos nun erst recht verwundertes Gesicht sah, fuhr er gleich fort: «Aber natürlich nicht! Wo habe ich nur meine Gedanken!»
Und er schnippte abermals und nun trug er plötzlich eine Kleidung, wie weder Momo noch sonst irgendjemand sie je gesehen hat; denn es war die Mode, die erst in hundert Jahren getragen werden wird.
«Auch nicht?», erkundigte er sich bei Momo. «Nun, beim Orion, das muss doch herauszukriegen sein! Warte, ich versuch’s nochmal.»
Er schnippte zum dritten Mal mit den Fingern und nun endlich stand er in einem gewöhnlichen Straßenanzug, wie man ihn heutzutage trägt, vor dem Kind.
«So ist es richtig, nicht wahr?», sagte er und zwinkerte Momo zu. «Ich hoffe nur, ich habe dich nicht erschreckt, Momo. Es war nur ein kleiner Spaß von mir. Aber nun darf ich dich vielleicht erst einmal zu Tisch bitten, liebes Mädchen. Das Frühstück ist bereit. Du hast einen Weg hinter dir und ich hoffe, es wird dir schmecken.» Er nahm sie bei der Hand und führte sie mitten in den Uhr-Wald hinein. Die Schildkröte folgte ihnen und blieb etwas zurück. Der Pfad verlief wie in einem Irrgarten kreuz und quer und mündete schließlich in einem kleinen Raum, der durch die Rückwände einiger riesiger Uhrenkästen gebildet wurde. In einer Ecke stand ein Tischchen mit geschwungenen Beinen und ein zierliches Sofa nebst dazupassenden Polsterstühlen. Auch hier war alles von dem goldenen Licht der reglosen Kerzenflammen erleuchtet.
Auf dem Tischchen stand eine dickbauchige, goldene Kanne, zwei kleine Tassen, dazu Teller, Löffelchen und Messer, alles aus blankem Gold. In einem Körbchen lagen goldbraune, knusprige Semmeln, in einem Schüsselchen befand sich goldgelbe Butter und in einem anderen Honig, der schlechthin wie flüssiges Gold aussah. Meister Hora schenkte aus der dickbauchigen Kanne in beide Tassen Schokolade und sagte mit einladender Gebärde: «Bitte, mein kleiner Gast, greif tüchtig zu!»
Das ließ sich Momo nicht zweimal sagen. Dass es Schokolade gab, die man trinken konnte, hatte sie bisher noch nicht einmal gewusst. Auch Semmeln, mit Butter und Honig bestrichen, gehörten zu den größten Seltenheiten in ihrem Leben. Und so köstlich, wie diese hier, hatte ihr überhaupt noch nie etwas geschmeckt.
So war sie zunächst einmal ganz und gar von diesem Frühstück in Anspruch genommen und schmauste mit vollen Backen ohne an irgendetwas anderes zu denken. Merkwürdigerweise wich durch dieses Essen auch alle Müdigkeit von ihr, sie fühlte sich frisch und munter, obgleich sie doch die ganze Nacht keinen Augenblick geschlafen. Je länger sie aß, desto besser schmeckte es ihr. Es war ihr, als könne sie tagelang so weiteressen.
Meister Hora schaute ihr dabei freundlich zu und war taktvoll genug, sie zunächst nicht durch Gespräche zu stören. Er verstand, dass es der Hunger vieler Jahre war, den sein Gast stillen musste. Und vielleicht war das der Grund, weshalb er beim Zusehen nach und nach wieder älter aussah, bis er wieder ein Mann mit weißen Haaren war. Als er merkte, dass Momo mit dem Messer nicht gut zurande kam, strich er die Brötchen und legte sie ihr auf den Teller. Er selbst aß nur wenig, sozusagen nur zur Gesellschaft.
Aber schließlich war Momo doch satt. Während sie ihre Schokolade austrank, blickte sie über den Rand ihrer goldenen Tasse hinweg prüfend ihren Gastgeber an und begann zu überlegen, wer und was er wohl sein mochte. Dass er niemand Gewöhnliches war, hatte sie natürlich gemerkt, aber bis jetzt wusste sie eigentlich noch nicht mehr von ihm als seinen Namen.
«Warum», fragte sie und setzte die Tasse ab, «hast du mich denn von der Schildkröte holen lassen?»
«Um dich vor den grauen Herren zu schützen», antwortete Meister Hora ernst. «Sie suchen dich überall und du bist nur hier bei mir vor ihnen sicher.»
«Wollen sie mir denn was tun?», erkundigte sich Momo erschrocken.
«Ja, Kind», seufzte Meister Hora, «das kann man wohl sagen.»
«Warum?», fragte Momo.
«Sie fürchten dich», erklärte Meister Hora, «denn du hast ihnen das Schlimmste angetan, was es für sie gibt.»
«Ich hab ihnen nichts getan», sagte Momo.
«Doch. Du hast einen von ihnen dazu gebracht sich zu verraten. Und du hast es deinen Freunden erzählt. Ihr wolltet sogar allen Leuten die Wahrheit über die grauen Herren mitteilen. Glaubst du, dass das nicht ausreicht, um sie dir zu Todfeinden zu machen?»
«Aber wir sind doch mitten durch die Stadt gegangen, die Schildkröte und ich», meinte Momo. «Wenn sie mich überall suchen, dann hätten sie mich doch ganz leicht kriegen können. Und wir sind auch ganz langsam gegangen.»
Meister Hora nahm die Schildkröte, die inzwischen wieder zu seinen Füßen saß, auf den Schoß und kraulte sie am Hals. «Was meinst du, Kassiopeia?», fragte er lächelnd. «Hätten sie euch kriegen können?»
Auf dem Rückenpanzer erschienen die Buchstaben «NIE!», und sie flimmerten so lustig, dass man förmlich glaubte, ein Gekicher zu hören.
«Kassiopeia», erklärte Meister Hora, «kann nämlich ein wenig in die Zukunft sehen. Nicht viel, aber immerhin so etwa eine halbe Stunde.»
«GENAU!», erschien auf dem Rückenpanzer.
«Verzeihung», verbesserte sich Meister Hora, «genau eine halbe Stunde. Sie weiß mit Sicherheit vorher, was jeweils in der nächsten halben Stunde sein wird. Deshalb weiß sie natürlich auch, ob sie beispielsweise den grauen Herren begegnen wird oder nicht.»
«Ach», sagte Momo verwundert, «das ist aber praktisch! Und wenn sie vorher weiß, da und da würde sie den grauen Herren begegnen, dann geht sie einfach einen anderen Weg?»
«Nein», antwortete Meister Hora, «ganz so einfach ist die Sache leider nicht. An dem, was sie vorher weiß, kann sie nichts ändern, denn sie weiß ja nur das, was wirklich geschehen wird. Wenn sie also wüsste, da und da begegnet sie den grauen Herren, dann würde sie ihnen eben auch begegnen. Dagegen könnte sie nichts machen.»
«Das versteh ich nicht», meinte Momo etwas enttäuscht, «dann nützt es doch gar nichts etwas vorher zu wissen.»
«Manchmal doch», erwiderte Meister Hora, «in deinem Fall zum Beispiel wusste sie, dass sie den und den Weg gehen und dabei den grauen Herren nicht begegnen würde. Das ist doch schon etwas wert, findest du nicht?»
Momo schwieg. Ihre Gedanken verwickelten sich wie ein aufgegangenes Fadenknäuel.
«Um aber wieder auf dich und deine Freunde zu kommen», fuhr Meister Hora fort, «muss ich dir mein Kompliment machen. Eure Plakate und Inschriften haben mich außerordentlich beeindruckt.»
«Hast du sie denn gelesen?», fragte Momo erfreut.
«Alle», antwortete Meister Hora, «und Wort für Wort!»
«Leider», meinte Momo, «hat sie sonst niemand gelesen, scheint’s.»
Meister Hora nickte bedauernd. «Ja, leider. Dafür haben die grauen Herren gesorgt.»
«Kennst du sie gut?», forschte Momo.
Wieder nickte Meister Hora und seufzte: «Ich kenne sie und sie kennen mich.»
Momo wusste nicht recht, was sie von dieser merkwürdigen Antwort halten sollte.
«Warst du schon oft bei ihnen?»
«Nein, noch nie. Ich verlasse das Nirgend-Haus niemals.»
«Aber die grauen Herren, ich meine – besuchen sie dich manchmal?»
Meister Hora lächelte. «Keine Sorge, kleine Momo. Hier herein können sie nicht kommen. Selbst wenn sie den Weg bis zur Niemals-Gasse wüssten. Aber sie wissen ihn nicht.»
Momo dachte eine Weile nach. Die Erklärung Meister Horas beruhigte sie zwar, aber sie wollte gern etwas mehr über ihn erfahren.
«Woher weißt du das eigentlich alles», begann sie wieder, «das mit unseren Plakaten und den grauen Herren?»
«Ich beobachte sie ständig und alles, was mit ihnen zusammenhängt», erklärte Meister Hora. «So habe ich eben auch dich und deine Freunde beobachtet.»
«Aber du gehst doch nie aus dem Haus?»
«Das ist auch nicht notwendig», sagte Meister Hora und wurde dabei wieder zusehends jünger, «ich habe doch meine Allsicht-Brille.» Er nahm seine kleine goldene Brille ab und reichte sie Momo.
«Willst du einmal durchgucken?»
Momo setzte sie auf, blinzelte, schielte und sagte: «Ich kann überhaupt nichts erkennen.» Denn sie sah nur einen Wirbel von lauter verschwommenen Farben, Lichtern und Schatten. Es wurde ihr geradezu schwindelig davon.
«Ja», hörte sie Meister Horas Stimme, «das geht einem am Anfang so. Es ist nicht ganz einfach, mit der Allsicht-Brille zu sehen. Aber du wirst dich gleich dran gewöhnen.»
Er stand auf, trat hinter Momos Stuhl und legte beide Hände sacht an die Bügel der Brille auf Momos Nase. Sofort wurde das Bild klar.
Momo sah zuerst die Gruppe der grauen Herren mit den drei Autos am Rand jenes Stadtteils mit dem seltsamen Licht. Sie waren gerade dabei, ihre Wagen zurückzuschieben.
Dann blickte sie weiter hinaus und sah andere Gruppen in den Straßen der Stadt, die aufgeregt gestikulierend miteinander redeten und sich eine Botschaft zuzurufen schienen.
«Sie reden von dir», erklärte Meister Hora, «sie können nicht begreifen, dass du ihnen entkommen bist.»
«Warum sehen sie eigentlich so grau im Gesicht aus?», wollte Momo wissen, während sie weiterguckte.
«Weil sie von etwas Totem ihr Dasein fristen», antwortete Meister Hora. «Du weißt ja, dass sie von der Lebenszeit der Menschen existieren. Aber diese Zeit stirbt buchstäblich, wenn sie von ihrem wahren Eigentümer losgerissen wird. Denn jeder Mensch hat seine Zeit. Und nur so lang sie wirklich die seine ist, bleibt sie lebendig.»
«Dann sind die grauen Herren also gar keine Menschen?»
«Nein, sie haben nur Menschengestalt angenommen.»
«Aber was sind sie dann?»
«In Wirklichkeit sind sie nichts.»
«Und wo kommen sie her?»
«Sie entstehen, weil die Menschen ihnen die Möglichkeit geben zu entstehen. Das genügt schon, damit es geschieht. Und nun geben die Menschen ihnen auch noch die Möglichkeit sie zu beherrschen. Und auch das genügt, damit es geschehen kann.»
«Und wenn sie keine Zeit mehr stehlen könnten?»
«Dann müssten sie ins Nichts zurück, aus dem sie gekommen sind.»
Meister Hora nahm Momo die Brille ab und steckte sie ein.
«Aber leider», fuhr er nach einer Weile fort, «haben sie schon viele Helfershelfer unter den Menschen. Das ist das Schlimme.»
«Ich», sagte Momo entschlossen, «lass mir meine Zeit von niemand wegnehmen!»
«Ich will es hoffen», antwortete Meister Hora. «Komm, Momo, ich will dir meine Sammlung zeigen.»
Jetzt sah er plötzlich wieder wie ein alter Mann aus.
Er nahm Momo bei der Hand und führte sie in den großen Saal hinaus.
Dort zeigte er ihr diese und jene Uhr, ließ Spielwerke laufen, führte ihr Weltzeituhren und Planetarien vor und wurde angesichts der Freude, die sein kleiner Gast an all den wunderlichen Dingen hatte, allmählich wieder jünger.
«Löst du eigentlich gern Rätsel?», fragte er beiläufig, während sie weitergingen.
«O ja, sehr gern!», antwortete Momo. «Weißt du eines?»
«Ja», sagte Meister Hora und blickte Momo lächelnd an, «aber es ist sehr schwer. Die wenigsten können es lösen.»
«Das ist gut», meinte Momo, «dann werde ich es mir merken und später meinen Freunden aufgeben.»
«Ich bin gespannt», erwiderte Meister Hora, «ob du es herauskriegen wirst. Hör gut zu:
Drei Brüder wohnen in einem Haus,
die sehen wahrhaftig verschieden aus,
doch willst du sie unterscheiden,
gleicht jeder den anderen beiden.
Der erste ist nicht da, er kommt erst nach Haus.
Der zweite ist nicht da, er ging schon hinaus.
Nur der dritte ist da, der Kleinste der drei,
denn ohne ihn gäb’s nicht die anderen zwei.
Und doch gibt’s den dritten, um den es sich handelt,
nur weil sich der erst in den zweiten verwandelt.
Denn willst du ihn anschaun, so siehst du nur wieder
immer einen der anderen Brüder!
Nun sage mir: Sind die drei vielleicht einer?
Oder sind es nur zwei? Oder ist es gar – keiner?
Und kannst du, mein Kind, ihre Namen mir nennen,
so wirst du drei mächtige Herrscher erkennen.
Sie regieren gemeinsam ein großes Reich –
und sind es auch selbst! Darin sind sie gleich.»
Meister Hora schaute Momo an und nickte aufmunternd. Sie hatte gespannt zugehört. Da sie ein ausgezeichnetes Gedächtnis hatte, wiederholte sie nun das Rätsel langsam und Wort für Wort. «Hui», seufzte sie dann, «das ist aber wirklich schwer. Ich hab keine Ahnung, was es sein könnte. Ich weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll.»
«Versuch’s nur», sagte Meister Hora.
Momo murmelte noch einmal das ganze Rätsel vor sich hin. Dann schüttelte sie den Kopf.
«Ich kann’s nicht», gab sie zu.
Inzwischen war die Schildkröte nachgekommen. Sie saß neben Meister Hora und guckte Momo aufmerksam an.
«Nun, Kassiopeia», sagte Meister Hora, «du weißt doch alles eine halbe Stunde voraus. Wird Momo das Rätsel lösen?»
«SIE WIRD!», erschien auf Kassiopeias Rückenpanzer.
«Siehst du», meinte Meister Hora, zu Momo gewandt, «du wirst es lösen. Kassiopeia irrt sich nie.»
Momo zog ihre Stirn kraus und begann wieder angestrengt nachzudenken. Was für drei Brüder gab es überhaupt, die zusammen in einem Haus wohnten? Dass es sich dabei nicht um Menschen handelte, war klar. In Rätseln waren Brüder immer Apfelkerne oder Zähne oder so was, jedenfalls Sachen von der gleichen Art. Aber hier waren es drei Brüder, die sich irgendwie ineinander verwandelten. Was gab es denn, was sich ineinander verwandelt? Momo schaute sich um. Da standen zum Beispiel die Kerzen mit den reglosen Flammen. Da verwandelte sich das Wachs durch die Flamme in Licht. Ja, das waren drei Brüder. Aber es ging doch nicht, denn sie waren ja alle drei da. Und zwei davon sollten ja nicht da sein. Also war es vielleicht so etwas wie Blüte, Frucht und Samenkorn. Ja, tatsächlich, da stimmte schon vieles. Das Samenkorn war das Kleinste von den Dreien. Und wenn es da war, waren die beiden anderen nicht da. Und ohne es gäb’s nicht die anderen zwei. Aber es ging doch nicht! Denn ein Samenkorn konnte man doch sehr gut anschauen. Und es hieß doch, dass man immer einen der anderen Brüder sieht, wenn man den Kleinsten der drei anschauen will.
Momos Gedanken irrten umher. Sie konnte und konnte einfach keine Spur finden, die sie weitergeführt hätte. Aber Kassiopeia hatte ja gesagt, sie würde die Lösung finden. Sie begann also noch einmal von vorn und murmelte die Worte des Rätsels langsam vor sich hin. Als sie zu der Stelle kam: «Der erste ist nicht da, er kommt erst nach Haus...», sah sie, dass die Schildkröte ihr zuzwinkerte. Auf ihrem Rücken erschienen die Worte: «DAS, WAS ICH WEISS!», und erloschen gleich wieder.
«Still, Kassiopeia!», sagte Meister Hora schmunzelnd, ohne dass er hingeguckt hatte. «Nicht einsagen! Momo kann es ganz allein.»
Momo hatte die Worte auf dem Panzer der Schildkröte natürlich gesehen und begann nun nachzudenken, was gemeint sein könnte. Was war es denn, was Kassiopeia wusste? Sie wusste, dass Momo das Rätsel lösen würde. Aber das ergab keinen Sinn.
Was wusste sie also noch? Sie wusste immer alles, was geschehen würde. Sie wusste ...
«Die Zukunft!», rief Momo laut. «Der erste ist nicht da, er kommt erst nach Haus – das ist die Zukunft!»
Meister Hora nickte.
«Und der zweite», fuhr Momo fort, «ist nicht da, er ging schon hinaus – das ist dann die Vergangenheit!»
Wieder nickte Meister Hora und lächelte erfreut.
«Aber jetzt», meinte Momo nachdenklich, «jetzt wird es schwierig. Was ist denn der dritte? Er ist der Kleinste der drei, aber ohne ihn gäb’s nicht die anderen zwei, heißt es. Und er ist der Einzige, der da ist.» Sie überlegte und rief plötzlich: «Das ist jetzt! Dieser Augenblick! Die Vergangenheit sind ja die gewesenen Augenblicke und die Zukunft sind die, die kommen! Also gäb’s beide nicht, wenn es die Gegenwart nicht gäbe. Das ist ja richtig!»
Momos Backen begannen vor Eifer zu glühen. Sie fuhr fort: «Aber was bedeutet das, was jetzt kommt?
Und doch gibt’s den dritten, um den es sich handelt,
nur weil sich der erst in den zweiten verwandelt ...
Das heißt also, dass es die Gegenwart nur gibt, weil sich die Zukunft in Vergangenheit verwandelt!»
Sie schaute Meister Hora überrascht an. «Das stimmt ja! Daran hab ich noch nie gedacht. Aber dann gibt’s ja den Augenblick eigentlich, gar nicht, sondern bloß Vergangenheit und Zukunft? Denn jetzt zum Beispiel, dieser Augenblick – wenn ich darüber rede, ist er ja schon wieder Vergangenheit! Ach, jetzt versteh ich, was das heißt: ‹Denn willst du ihn anschaun, so siehst du nur wieder immer einen der anderen Brüder!› Und jetzt versteh ich auch das Übrige, weil man meinen kann, dass es überhaupt nur einen von den drei Brüdern gibt: nämlich die Gegenwart oder nur Vergangenheit und Zukunft. Oder eben gar keinen, weil es ja jeden bloß gibt, wenn es die anderen auch gibt! Da dreht sich einem ja alles im Kopf!»
«Aber das Rätsel ist noch nicht zu Ende», sagte Meister Hora. «Was ist denn das große Reich, das die drei gemeinsam regieren und das sie zugleich selber sind?»
Momo schaute ihn ratlos an. Was konnte das wohl sein? Was war denn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, alles zusammen?
Sie schaute in dem riesigen Saal umher. Ihr Blick wanderte über die tausend und abertausend Uhren und plötzlich blitzte es in ihren Augen.
«Die Zeit!», rief sie und klatschte in die Hände. «Ja, das ist die Zeit! Die Zeit ist es!» Und sie hüpfte vor Vergnügen ein paarmal.
«Und nun sag mir auch noch, was das Haus ist, in dem die drei Brüder wohnen!», forderte Meister Hora sie auf.
«Das ist die Welt», antwortete Momo.
«Bravo!», rief nun Meister Hora und klatschte ebenfalls in die Hände. «Meinen Respekt, Momo! Du verstehst dich aufs Rätsellösen! Das hat mir wirklich Freude gemacht!»
«Mir auch!», antwortete Momo und wunderte sich im Stillen ein wenig, warum Meister Hora sich so darüber freute, dass sie das Rätsel gelöst hatte.
(Aus: Michael Ende: Momo.
K. Thienemanns Verlag, Stuttgart 2002)