Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №18/2009

Hauslektüre im Deutschunterricht

Didaktisierungsvorschlag zum Buch «Momo» von Michael Ende

Erstellt von Dr. Dana Bartosch, Ruth-Ulrike Deutschmann, Natalia Koslowa

Fortsetzung aus Nr. 01, 02, 03, 04, 05, 07, 08, 09, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17/2009

Lesetext
Dreizehntes Kapitel

Dort ein Tag und hier ein Jahr

Momo erwachte und schlug die Augen auf.
Sie musste sich eine Weile besinnen, wo sie war. Es verwirrte sie, dass sie sich auf den grasbewachsenen Steinstufen des alten Amphitheaters wiederfand. War sie denn nicht vor wenigen Augenblicken noch im Nirgend-Haus bei Meister Hora gewesen? Wie kam sie denn so plötzlich hierher?
Es war dunkel und kühl. Über dem östlichen Horizont dämmerte eben das erste Morgengrauen auf. Momo fröstelte und zog sich ihre viel zu große Jacke enger um den Leib.
Ganz deutlich erinnerte sie sich an alles, was sie erlebt hatte, an die nächtliche Wanderung durch die große Stadt hinter der Schildkröte her, an den Stadtteil mit dem seltsamen Licht und den blendend weißen Häusern, an die Niemals-Gasse, an den Saal mit den unzähligen Uhren, an die Schokolade und die Honigbrötchen, an jedes einzelne Wort ihrer Unterhaltung mit Meister Hora und an das Rätsel. Aber vor allem erinnerte sie sich an das Erlebnis unter der goldenen Kuppel. Sie brauchte nur die Augen zu schließen, um die nie zuvor geschaute Farbenpracht der Blüten wieder vor sich zu sehen. Und die Stimmen von Sonne, Mond und Sternen klangen ihr noch immer im Ohr, so deutlich sogar, dass sie die Melodien mitsummen konnte.
Und während sie das tat, formten sich Worte in ihr, Worte, die wirklich den Duft der Blüten und deren nie gesehene Farben ausdrückten! Die Stimmen in Momos Erinnerung waren es, die diese Worte sprachen – doch mit dieser Erinnerung selbst war etwas Wunderbares geschehen! Momo fand in ihr nun nicht mehr nur das, was sie gesehen und gehört hatte, sondern mehr und immer noch mehr. Wie aus einem unerschöpflichen Zauberbrunnen stiegen tausend Bilder von Stunden-Blumen auf. Und bei jeder Blume erklangen neue Worte. Momo brauchte nur aufmerksam in sich hinein zu lauschen, um diese nachsprechen, ja sogar mitsingen zu können. Von geheimnisvollen und wunderbaren Dingen war da die Rede, aber indem Momo die Worte nachsprach, konnte sie deren Bedeutung verstehen.
Das also hatte Meister Hora gemeint, als er gesagt hatte, die Worte müssten erst in ihr wachsen!
Oder war am Ende alles nur ein Traum gewesen? War das alles gar nicht wirklich geschehen?
Aber während Momo noch überlegte, sah sie unten auf dem runden Platz in der Mitte etwas krabbeln. Es war eine Schildkröte, die da ganz gemächlich nach essbaren Kräutern suchte!
Rasch kletterte Momo zu ihr hinunter und hockte sich neben sie auf den Boden. Die Schildkröte hob nur kurz den Kopf, musterte das Kind mit ihren uralten, schwarzen Augen und fraß dann geruhsam weiter.
«Guten Morgen, Schildkröte», sagte Momo.
Keine Antwort erschien auf dem Rückenpanzer.
«Warst du es», fragte Momo, «die mich heute Nacht zu Meister Hora geführt hat?»
Wieder keine Antwort. Momo seufzte enttäuscht.
«Schade», murmelte sie, «also bist du nur eine gewöhnliche Schildkröte und nicht die... ach, ich hab den Namen vergessen. Es war ein schöner Name, aber lang und seltsam. Ich hab ihn noch nie vorher gehört.»
«KASSIOPEIA!», stand plötzlich in schwach leuch­tenden Buchstaben auf dem Panzer der Schildkröte. Momo entzifferte es entzückt.
«Ja!», rief sie und klatschte in die Hände. «Das war der Name! Dann bist du’s ja doch? Du bist Meister Horas Schildkröte, nicht wahr?»
«WER DENN SONST?»
«Aber warum hast du mir denn zuerst nicht geantwortet?»
«ICH FRÜHSTÜCKE», war auf dem Panzer zu lesen.
«Entschuldige!», erwiderte Momo. «Ich wollte dich ja nicht stören. Ich möchte nur gern wissen, wie es kommt, dass ich auf einmal wieder hier bin?»
«DEIN WUNSCH!», erschien als Antwort.
«Sonderbar», murmelte Momo, «daran kann ich mich gar nicht erinnern. Und du, Kassiopeia? Warum bist du nicht bei Meister Hora geblieben, sondern mit mir gekommen?»
«MEIN WUNSCH!», stand auf dem Rückenpanzer.
«Vielen Dank», sagte Momo, «das ist lieb von dir.»
«BITTE», war die Antwort. Damit schien für die Schildkröte die Unterhaltung zunächst beendet, denn sie stapfte weiter um ihr unterbrochenes Frühstück fortzusetzen.
Momo setzte sich auf die steinernen Stufen und freute sich auf Beppo, Gigi und die Kinder. Sie lauschte wieder auf die Musik, die nicht aufhörte in ihrem Inneren zu klingen. Und obwohl sie ganz allein war und kein Mensch ihr zuhörte, sang sie immer lauter und beherzter die Melodien und die Worte mit, geradewegs in die aufgehende Sonne hinein. Und es schien ihr, als ob die Vögel und die Grillen und die Bäume und sogar die alten Steine diesmal ihr zuhörten.
Sie konnte nicht wissen, dass sie für lange Zeit keine anderen Zuhörer mehr finden würde. Sie konnte nicht wissen, dass sie ganz vergeblich auf ihre Freunde wartete, dass sie sehr lange fort gewesen war und dass die Welt sich inzwischen verändert hatte.
Mit Gigi Fremdenführer hatten die grauen Herren es vergleichsweise leicht gehabt.
Es hatte damit begonnen, dass etwa vor einem Jahr, kurz nach dem Tag, an dem Momo plötzlich spurlos verschwunden war, ein längerer Artikel über Gigi in der Zeitung erschien. «Der letzte wirkliche Geschichtenerzähler», stand da. Außerdem wurde berichtet, wo und wann man ihn treffen könne und er sei eine Attraktion, die man nicht versäumen dürfe.
Daraufhin kamen immer häufiger Leute zu dem alten Amphitheater, die Gigi sehen und hören wollten. Gigi hatte natürlich nichts dagegen einzuwenden.
Er erzählte wie immer, was ihm gerade einfiel und ging anschließend mit seiner Mütze herum, die jedes Mal voller von Münzen und Geldscheinen war. Bald wurde er von einem Reiseunternehmen angestellt, das ihm zusätzlich noch eine feste Summe bezahlte für das Recht, ihn selbst als Sehenswürdigkeit zu präsentieren. Die Reisenden wurden in Autobussen herbeigeschafft und schon nach kurzer Zeit musste Gigi einen regelrechten Stundenplan einhalten, damit auch wirklich alle, die dafür bezahlt hatten, Gelegenheit fanden, ihn zu hören.
Schon damals begann Momo ihm sehr zu fehlen, denn seine Geschichten hatten keine Flügel mehr, obgleich er sich noch immer standhaft weigerte, die gleiche Geschichte zweimal zu erzählen, selbst als ihm das doppelte Geld dafür geboten wurde.
Nach wenigen Monaten hatte er es nicht mehr nötig beim alten Amphitheater aufzutreten und mit der Mütze herumzugehen. Der Rundfunk holte ihn und wenig später sogar das Fernsehen. Dort erzählte er nun dreimal wöchentlich vor Millionen von Zuhörern seine Geschichten und er verdiente eine Menge Geld.
Inzwischen wohnte er auch nicht mehr in der Nähe des alten Amphitheaters, sondern in einem ganz anderen Stadtteil, dort wo alle reichen und berühmten Leute wohnten. Er hatte ein großes modernes Haus gemietet, das mitten in einem gepflegten Park lag. Er nannte sich auch nicht mehr Gigi, sondern Girolamo.
Natürlich hatte er längst aufgehört, wie früher immer neue Geschichten zu erfinden. Er hatte gar keine Zeit mehr dazu.
Er begann haushälterisch mit seinen Einfällen umzugehen. Aus einem einzigen machte er jetzt manchmal fünf verschiedene Geschichten.
Und als auch das nicht mehr genügte, um der immer noch zunehmenden Nachfrage gerecht zu werden, tat er eines Tages etwas, das er nicht hätte tun dürfen: Er erzählte eine der Geschichten, die Momo ganz allein gehörte.
Sie wurde ebenso hastig verschlungen wie alle anderen und war sofort wieder vergessen. Man forderte weitere Geschichten von ihm. Gigi war so benommen von diesem Tempo, dass er, ohne sich zu besinnen, hintereinanderweg alle Geschichten preisgab, die nur für Momo bestimmt gewesen waren. Und als er die letzte erzählt hatte, fühlte er plötzlich, dass er leer und ausgehöhlt war und nichts mehr erfinden konnte.
In seiner Angst, der Erfolg könne ihn wieder verlassen, begann er alle seine Geschichten noch einmal zu erzählen, nur mit neuen Namen und ein bisschen verändert. Und das Erstaunliche war, dass niemand es zu bemerken schien. Jedenfalls beeinträchtigte es die Nachfrage nicht. Daran hielt Gigi sich fest wie ein Ertrinkender an einer Holzplanke. Denn nun war er doch reich und berühmt – und war es nicht das gewesen, wovon er immer geträumt hatte?
Aber manchmal des Nachts, wenn er in seinem Bett mit der seidenen Steppdecke lag, sehnte er sich zurück nach dem anderen Leben, wo er mit Momo und dem alten Beppo und den Kindern hatte zusammen sein können und wo er wirklich noch zu erzählen verstanden hatte.
Aber dorthin führte kein Weg zurück, denn Momo war und blieb verschwunden. Anfangs hatte Gigi einige ernstliche Versuche gemacht sie wiederzufinden, später war ihm dazu keine Zeit mehr geblieben. Er hatte nun drei tüchtige Sekretärinnen, die für ihn Verträge abschlossen, denen er seine Geschichten diktierte, die Reklame für ihn machten und seine Termine regelten. Aber ein Termin für die Suche nach Momo ließ sich niemals mehr einschieben.
Von dem alten Gigi war nur noch wenig übrig geblieben. Aber eines Tages raffte er dieses wenige zusammen und beschloss sich auf sich selbst zu besinnen. Er war doch nun jemand, so sagte er sich, dessen Stimme Gewicht hatte und auf den Millionen hörten. Wer, wenn nicht er, konnte den Menschen die Wahrheit sagen! Er wollte ihnen von den grauen Herren erzählen! Und er wollte dazu sagen, dass dies keine erfundene Geschichte sei und dass er alle seine Zuhörer bitte, ihm bei der Suche nach Momo zu helfen.
Diesen Entschluss hatte er in einer jener Nächte gefasst, in denen er sich nach seinen alten Freunden sehnte. Und als die Morgendämmerung kam, saß er bereits an seinem großen Schreibtisch, um sich Notizen zu seinem Plan zu machen. Doch ehe er noch das erste Wort niedergeschrieben hatte, schrillte das Telefon. Er hob ab, horchte und erstarrte vor Entsetzen.
Eine seltsam tonlose, sozusagen aschengraue Stimme sprach zu ihm und er fühlte gleichzeitig eine Kälte in sich aufsteigen, die aus dem Mark seiner Knochen zu kommen schien.
«Lass das sein!», sprach die Stimme. «Wir raten es dir im Guten.»
«Wer ist da?», fragte Gigi.
«Das weißt du ganz gut», antwortete die Stimme. «Wir brauchen uns wohl nicht vorzustellen. Du hast zwar bisher noch nicht persönlich das Vergnügen mit uns gehabt, aber du gehörst uns schon längst mit Haut und Haar. Sag nur, du wüsstest das nicht!»
«Was wollt ihr von mir?»
«Was du dir da vorgenommen hast, das gefällt uns nicht. Sei brav und lass es bleiben, ja?»
Gigi nahm all seinen Mut zusammen.
«Nein», sagte er, «ich lasse es nicht bleiben. Ich bin nicht mehr der kleine unbekannte Gigi Fremdenführer. Ich bin jetzt ein großer Mann. Wir werden ja sehen, ob ihr es mit mir aufnehmen könnt.»
Die Stimme lachte tonlos und Gigi begannen plötzlich die Zähne aufeinander zu schlagen.
«Du bist niemand», sagte die Stimme. «Wir haben dich gemacht. Du bist eine Gummipuppe. Wir haben dich aufgeblasen. Aber wenn du uns Ärger machst, dann lassen wir die Luft wieder aus dir heraus. Oder glaubst du im Ernst, dass du es dir und deinem unbedeutenden Talent zu verdanken hast, was du jetzt bist?»
«Ja, das glaube ich», erwiderte Gigi heiser.
«Armer kleiner Gigi», sagte die Stimme, «du bist und bleibst ein Phantast. Früher warst du Prinz Girolamo in der Maske des armen Schluckers Gigi. Und was bist du nun? Der arme Schlucker Gigi in der Maske des Prinzen Girolamo.
Trotzdem, du solltest uns dankbar sein, denn schließlich waren wir es doch, die dir alle deine Träume erfüllt haben.»
«Das ist nicht wahr!», stammelte Gigi. «Das ist Lüge!»
«Du liebe Zeit!», antwortete die Stimme und lachte wieder tonlos. «Ausgerechnet du willst uns mit der Wahrheit kommen? Du hattest doch früher immer so viele schöne Sprüche von wegen wahr und nicht wahr. Ach nein, armer Gigi, es wird dir nicht gut bekommen, wenn du versuchst, dich auf die Wahrheit zu berufen. Berühmt bist du mit unserer Hilfe für deine Flunkereien. Für die Wahrheit bist du nicht zuständig. Darum lass es sein!»
«Was habt ihr mit Momo gemacht?», flüsterte Gigi.
«Darüber zerbrich dir nicht deinen niedlichen Wirrkopf! Ihr kannst du nicht mehr helfen – schon gar nicht, indem du nun diese Geschichte über uns erzählst. Das Einzige, was du damit erreichen wirst, ist, dass dein schöner Erfolg genau so schnell vorbei sein wird, wie er gekommen ist. Natürlich musst du das selbst entscheiden. Wir wollen dich nicht abhalten, den Helden zu spielen und dich zu ruinieren, wenn dir so viel daran liegt. Aber du kannst nicht von uns erwarten, dass wir weiterhin unsere schützende Hand über dich halten, wenn du so undankbar bist. Ist es denn nicht viel angenehmer, reich und berühmt zu sein?»
«Doch», antwortete Gigi mit erstickter Stimme.
«Na, siehst du! Also – lass uns aus dem Spiel, ja? Erzähle den Leuten lieber weiterhin das, was sie von dir hören wollen!»
«Wie soll ich das machen?», brachte Gigi mit Anstrengung hervor. «Jetzt, wo ich das alles weiß.»
«Ich gebe dir einen guten Rat: Nimm dich selbst nicht so ernst. Es kommt wirklich nicht auf dich an. So betrachtet, kannst du doch sehr schön weitermachen wie bisher!»
«Ja», flüsterte Gigi und starrte vor sich hin, «so betrachtet ...»
Dann klickte es im Hörer und auch Gigi hängte ein. Er fiel vornüber auf die Platte seines großen Schreibtisches und verbarg das Gesicht in seinen Armen. Ein lautloses Schluchzen schüttelte ihn. Von diesem Tag an hatte Gigi alle Selbstachtung verloren. Er gab seinen Plan auf und machte weiter wie bisher, aber er fühlte sich dabei wie ein Betrüger. Und das war er ja auch. Früher hatte ihn seine Phantasie ihre schwebenden Wege geführt und er war ihr unbekümmert gefolgt. Aber nun log er!
Er machte sich zum Hanswurst, zum Hampelmann seines Publikums und er wusste es. Er begann seine Tätigkeit zu hassen. Und so wurden seine Geschichten immer alberner oder rührseliger.
Aber das tat seinem Erfolg nicht etwa Abbruch, im Gegenteil, man nannte es einen neuen Stil und viele versuchten ihn nachzuahmen. Er wurde große Mode. Aber Gigi hatte keine Freude daran. Er wusste ja nun, wem er das alles verdankte. Er hatte nichts gewonnen. Er hatte alles verloren.
Aber er raste weiter mit dem Auto von Termin zu Termin, er flog mit den schnellsten Flugzeugen und er diktierte unaufhörlich, wo er ging und stand, den Sekretärinnen seine alten Geschichten im neuen Gewand. Er war – wie in allen Zeitungen stand – «erstaunlich fruchtbar». So war aus dem Träumer Gigi der Lügner Girolamo geworden.
Viel schwerer war es den grauen Herren geworden mit dem alten Beppo Straßenkehrer fertig zu werden.
Nach jener Nacht, in der Momo verschwunden war, saß er, wann immer seine Arbeit es ihm erlaubte, im alten Amphitheater und wartete. Seine Sorge und Unruhe wuchs von Tag zu Tag. Und als er es schließlich nicht mehr aushalten konnte, beschloss er trotz aller berechtigten Einwände, die Gigi vorgebracht hatte, zur Polizei zu gehen.
«Immer noch besser», sagte er sich, «sie stecken Momo wieder in solch ein Heim mit Gittern vor den Fenstern, als dass die Grauen sie gefangen halten. Falls sie überhaupt noch am Leben ist. Aus so einem Heim ist sie schon mal ausgerissen und kann es wieder tun. Vielleicht kann ich auch dafür sorgen, dass sie gar nicht erst reinkommt. Aber erst muss man sie jetzt finden.»
Er ging also zur nächsten Polizeiwache, die am Stadtrand lag. Eine Weile stand er noch vor der Tür herum und drehte seinen Hut in den Händen, dann fasste er sich ein Herz und ging hinein.
«Sie wünschen?», fragte der Polizist, der gerade damit beschäftigt war, ein langes und schwieriges Formular auszufüllen.
Beppo brauchte eine Weile, ehe er hervorbrachte: «Es muss da nämlich etwas Schreckliches geschehen sein.»
«So?», fragte der Polizist, der immer noch weiterschrieb. «Worum handelt es sich denn?»
«Es handelt sich», antwortete Beppo, «um unsere Momo.»
«Ein Kind?»
«Ja, ein kleines Mädchen.»
«Ist es Ihr Kind?»
«Nein», sagte Beppo verwirrt, «das heißt, ja, aber der Vater bin ich nicht.»
«Nein, das heißt ja!», sagte der Polizist ärgerlich. «Wessen Kind ist es denn? Wer sind seine Eltern?»
«Das weiß niemand», antwortete Beppo.
«Wo ist das Kind denn gemeldet?»
«Gemeldet?», fragte Beppo. «Na, ich denke, bei uns. Wir kennen es alle.»
«Also nicht gemeldet», stellte der Polizist seufzend fest. «Wissen Sie, dass so was verboten ist? Wo kämen wir denn da hin! Bei wem wohnt das Kind?»
«Bei sich», erwiderte Beppo, «das heißt, im alten Ampitheater. Aber da wohnt sie ja nun nicht mehr. Sie ist weg.»
«Augenblick mal», sagte der Polizist, «wenn ich richtig verstehe, dann wohnte bis jetzt in der Ruine da draußen ein vagabundierendes kleines Mädchen namens ... wie sagten Sie?»
«Momo», antwortete Beppo.
Der Polizist begann alles aufzuschreiben.
«... namens Momo. Momo und wie weiter? Den ganzen Namen, bitte!»
«Momo und nichts weiter», sagte Beppo.
Der Polizist kratzte sich unter dem Kinn und blickte Beppo bekümmert an.
«Also so geht das nicht, mein Guter. Ich will Ihnen ja helfen, aber so kann man keine Anzeige aufsetzen. Nun sagen Sie mir erst mal, wie Sie selbst heißen.»
«Beppo», sagte Beppo.
«Und wie weiter?»
«Beppo Straßenkehrer.»
«Den Namen will ich wissen, nicht den Beruf!»
«Es ist beides», erklärte Beppo geduldig.
Der Polizist ließ den Federhalter sinken und vergrub sein Gesicht in den Händen.
«Gott im Himmel!», murmelte er verzweifelt. «Warum muss gerade ich jetzt Dienst haben?»
Dann richtete er sich auf, straffte seine Schultern, lächelte dem alten Mann aufmunternd zu und sagte mit der Sanftheit eines Krankenpflegers: «Die Personalien können wir ja später aufnehmen. Jetzt erzählen Sie erst mal der Reihe nach, was eigentlich war und wie alles gekommen ist.»
«Alles?», fragte Beppo zweifelnd.
«Alles, was zur Sache gehört», antwortete der Polizist. «Ich habe zwar überhaupt keine Zeit, ich muss bis Mittag diesen ganzen Berg von Formularen da ausgefüllt haben, ich bin am Rande meiner Kräfte und meiner Nerven –, aber lassen Sie sich ruhig Zeit und erzählen Sie, was Sie auf dem Herzen haben.»
Er lehnte sich zurück und schloss die Augen mit dem Ausdruck eines Märtyrers, der gerade auf dem Rost gebraten wird. Und der alte Beppo begann, auf seine wunderliche und umständliche Art, die ganze Geschichte zu erzählen, angefangen von Momos Auftauchen und ihrer besonderen Eigenschaft, bis zu den grauen Herren auf der Müllhalde, die er selbst belauscht hatte.
«Und in derselben Nacht», schloss er, «ist Momo verschwunden.»
Der Polizist blickte ihn lange und gramerfüllt an.
«Mit anderen Worten», sagte er schließlich, «da war einmal ein höchst unwahrscheinliches, kleines Mädchen, dessen Existenz man nicht beweisen kann und das ist von so einer Art Gespenster, die es ja bekanntlich nicht gibt, wer weiß wohin entführt worden. Aber auch das ist nicht sicher. Und darum soll sich nun die Polizei kümmern?»
«Ja, bitte!», sagte Beppo.
Der Polizist beugte sich vor und rief barsch: «Hauchen Sie mich mal an!»

(Aus: Michael Ende: Momo.
K. Thienemanns Verlag, Stuttgart 2002)

Fortsetzung folgt