Literatur
Hans Joachim Schädlich
Irgend etwas irgendwie
Fortsetzung aus Nr. 21, 22, 23, 24/2008
Aber ich hielt die Augen geöffnet und geschlossen. Ich wollte aufstehen, und ich wollte liegenbleiben. So blieb ich liegen und stand auf. Ich rief nach jemandem, der in der Wohnung sein konnte, erhielt Antwort, ging der Stimme nach. In keinem Zimmer fand ich jemanden; ich konnte wenigstens froh sein, daß mir geantwortet worden war. In diesem Vertrauen verfolgte ich meine Absicht. Ich empfand Scheu, jemanden zu berühren, ich lag, in Abwehr verkrümmt, auf dem Bett, und ich stand aufrecht, auf der Suche nach jemandem, in einem Zimmer.
Die Anruferin sagte, Ruf Freunde an, lad sie ein.
Nein, sagte Einer. Ich weiß nicht, was ich ihnen sagen soll; ich mache sie verlegen. Sie sehen mich an, als wäre ich nicht ich: Ist er es, oder wer ist es. Ich werde hilfloser, stocke, schweige.
Vor einiger Zeit rief P. an. Er sagte, Ich komme in einer Stunde zu dir. Ich bringe F. mit. Wir wollen dich sehen. Ja, sagte ich, in einer Stunde. Ich zog mich an, kämmte mein Haar. Ich rückte drei Stühle um den Tisch und wartete. Meine Angst war groß. Wie sollte ich auf dem Stuhl sitzen. Was sollte ich sagen. Dreimal sah ich in den Spiegel, nachzusehen, wer ich wäre. Ich saß mit P. und F. am Tisch und hörte ihre Reden. P. sprach von einem Roman, den er verkaufen wollte nach zweijähriger Arbeit. Der Roman handelt von einem Sommer in Kalifornien. Ich interessierte mich für P.’s Sätze, weil ich mir Kalifornien nicht vorstellen kann. Ich dachte mir die Sonne, das Meer, die leichten Kleider der Romanfiguren. Als ich bemerkte, daß die Romanfiguren, zwei Männer und eine Frau, den Sommer brauchten, um in leichten Kleidern unter heller Sonne am Meer herauszufinden, wer zu wem passe, wollte ich nicht mehr verstehen, warum die Handlung im Sommer spielt. So verlor ich das Interesse an der Gegend Kalifornien. P. strich die Enden eines Seidenschals glatt, den er lose um den Hals trug.
F. wollte von etwas anderem reden. Er lebt, wie ich wußte, zwei Tage der Woche bei seiner Frau, fünf Tage bei seiner Freundin. Ich interessierte mich für F.’s Sätze, weil ich wissen wollte, wie er mit seiner Frau lebt und wie mit seiner Freundin. Es stört meine Freundin, sagte F., daß ich an immer den gleichen Tagen, Sonnabend und Sonntag, bei meiner Frau bin. Erst wünschte sie, ich möge manchmal an anderen Tagen bei meiner Frau sein. Jetzt wünscht sie, ich möge überhaupt nicht mehr zu ihr gehen. Meine Frau ist anders, sagte er. Sie möchte, daß ich zur Hälfte bei ihr, zur Hälfte bei meiner Freundin bin.
Ich wurde still. Ich hatte gewußt, daß P. und F. leben wie immer. Sie hatten gewußt, daß sie nach mir sehen müßten. Was sollte gesagt werden?
Was ist mit W., sagte die Anruferin. Hast du ihn gesehen?
Ja, sagte Einer. In einem weiten niedrigen Raum zwei oder drei Frauen, wahrscheinlich drei, ferner zwei Männer, drei Kinder, am Morgen. Die Frauen erwachen als erste. Die Männer und Kinder erwachen von dem Satz, den eine Frau sagt, Auf dem Tisch sitzt ein Toter. Es ist ein grauhaariger, schmächtiger Mann; das Kinn auf der Brust, die Arme verschränkt, die Füße eng beieinander. Ernst W., sagt der andere Mann; alle erkennen ihn. Eine der Frauen, die älteste, sagt, Er muß hinausgetragen werden. Ich frage, Wer soll ihn tragen. Die Frau sagt, Die Männer sollen es. Ich und der andere gehen zum Tisch. Ich sage, Nimm die Arme. Wir heben den Toten vom Tisch, er verharrt in sitzender Haltung. Er ist leicht, sein Gewicht erscheint mir nicht größer als das Gewicht seiner Kleidung. Der andere sagt, Er muß lange Zeit hier gesessen haben. Wir tragen den Toten in den Vorraum, aber wissen nicht, wo er sitzen soll. Vor dem Haus ist es kalt. Draußen ist es besser für ihn, sagt der andere. Wir tragen den Toten vor die Tür und legen ihn nieder. Sitzend liegt er.
Ja, sagte die Anruferin. Es kann sein. Die Anruferin sagte, Übrigens, D. war bei mir.
Aja, sagte Einer.
Er war bei dir, sagte die Anruferin.
Ja, sagte Einer.
Die Anruferin sagte, Er wollte ein Interview.
Der Abdruck folgt dem Original von 1987 und entspricht damit nicht den heute gültigen Rechtschreibregelungen.
Scheu, die; - [mhd. schiuhe = (Ab)scheu, Schreckbild, zu scheu]: a) das Scheusein; scheues, von anderen, bes. von fremden Menschen sich fern haltendes Wesen, Verhalten: eine kindliche S.; eine andächtige S.; eine gewisse S. zeigen; seine S. verlieren; jmdm. S. einflößen; mit heiliger S. (geh.; Ehrfurcht); voller S. [vor jmdm. od. etw.] sein; b) scheues, nicht zutrauliches Wesen, Verhalten: die Katze ließ sich ohne [jede] S. streicheln.
ver|krüm|men <sw. V.> [mhd. verkrummen, -krümmen]: 1. krumm werden <ist>: ihr Rücken verkrümmte zusehends; <häufig v. + sich; hat:> seine Wirbelsäule hat sich verkrümmt; verkrümmte Zehen. 2. krumm machen <hat>: die Gicht hat ihre Finger verkrümmt.
ver|le|gen <Adj.> [mhd. verlegen, eigtl. adj. 2. Part. von: verligen = durch langes Liegen Schaden nehmen od. träge werden; Bedeutungsentwicklung von «untätig» über «unschlüssig, ratlos» zur heutigen Bed.]: 1. in einer peinlichen, unangenehmen Situation nicht so recht wissend, wie man sich verhalten soll; Unsicherheit u. eine Art von Hilflosigkeit ausdrückend: ein -er kleiner Junge; ein -er Blick; es entstand eine -e Pause, ein -es Schweigen; sie war, wurde ganz v.; er räusperte sich v.; v. lächeln, dastehen. 2. *um etw. v. sein (etw. nicht zur Verfügung haben, es benötigen, brauchen): er ist immer um Geld v.; nicht/nie um etw. v. sein (immer etw. als Entgegnung bereithaben): sie ist nie um Worte, eine Ausrede, eine Antwort v.
sto|cken <sw. V.> [urspr. = fest, dickflüssig werden, gerinnen, wohl zu Stock, eigtl. = steif wie ein Stock werden; eigtl. = unter der Einwirkung stockender Dünste faulen]: im Sprechen, in einer Bewegung, Tätigkeit aus Angst o. Ä. innehalten <hat>: sie stockte beim Lesen, in ihrer Erzählung [kein einziges Mal]; stockend etw. fragen; er sprach ein wenig stockend (nicht flüssig).
nach|se|hen <st. V.; hat>: 1. mit den Blicken folgen; zusehen, wie sich jmd., etw. entfernt; hinterherblicken, -sehen: jmdm. sinnend n.; den Schiffen n. 2. a) sich mit prüfenden Blicken über einen bestimmten Sachverhalt informieren; kontrollierend nach etw. sehen: sieh mal nach, ob die Kinder schlafen/wer an der Tür ist; b) nachschlagen; c) in einem Buch aufsuchen u. lesen; nachschlagen. 3. kontrollierend, überprüfend auf Fehler, Mängel hin durchsehen: [jmdm.] die Schularbeiten n. 4. mit jmdm. in Bezug auf etw. sonst Beanstandens-, Tadelnswertes nachsichtig sein, nicht übel nehmen: er sieht den Kindern alle Unarten nach.
schmäch|tig <Adj.> [mhd. smahtec (mniederd. smachtich) = Hunger leidend, zu: smaht = Hunger, Durst, zu schmachten]: dünn u. von zartem Gliederbau: ein -es Kind; jmd. ist klein und s.
ver|schrän|ken <sw. V.; hat> [mhd. verschrenken, ahd. forscrenchan = mit einer Schranke umgeben, einschließen]: (Gliedmaßen) über Kreuz legen: sie verschränkte die Hände hinterm Kopf, die Arme auf der Brust, vor der Brust.
ver|har|ren <sw. V.; hat> [mhd. verharren] (geh.): a) [in einer Bewegung innehaltend] sich für eine Weile nicht von seinem Platz fortbewegen, von der Stelle rühren: einen Augenblick v.; unschlüssig an der Tür, auf dem Platz v.; Ü die Zinsen verharren schon länger auf hohem Niveau; b) [beharrlich] in, bei etw. bleiben: in Resignation, in Schweigen v.
Aus: Hans Joachim Schädlich: Ostwestberlin. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1987. S. 81–98.