Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №2/2009

Literatur

Hans Joachim Schädlich
Irgend etwas irgendwie

Fortsetzung aus Nr. 21, 22, 23, 24/2008, 01/2009

Ja, sagte Einer. Ich habe einige Fragen beantwortet, dann hat er es aufgegeben.
Das hat er mir gesagt, sagte die Anruferin.
Aber er hat mir den Text gegeben, der herausgekommen ist, sagte Einer. Soll ich ihn vorlesen?
Ja, sagte die Anruferin.
Warte, sagte Einer. Ich hole ihn.
Einer legte den Telefonhörer auf die Kommode und ging in das hintere Zimmer. Unter einem Stapel Briefe, die er nicht beantwortet hatte, lag der Text des abgebrochenen Interviews.
Bist du noch da?, sagte Einer.
Ja, sagte die Anruferin.
Ich lese, sagte Einer.
Frage: Sie haben seit Jahren kein Wort veröffentlicht. Schreiben Sie?
Antwort: Sehen Sie diesen Schreibblock. Er ist das zwölfte Kapitel eines Romans. Kein Wort, das geschrieben wird, bleibt. Es wird gestrichen und ersetzt. Der Ersatz verworfen. So der Ersatz des Ersatzes. Am Ende der Seite ist die Seite getilgt. Sie wird zerrissen. Ein Schreibblock ohne Blätter.
Frage: Wie lange arbeiten Sie an Ihrem Roman.
Antwort: Vier Jahre. In diesem Jahr schließe ich ihn ab. Er umfaßt sechzehn leere Schreibblöcke.
Frage: Welches ist das Thema Ihres Romans.
Antwort: Das Sprechen. Es wird gesprochen. Aber ein Wort, das gesprochen ist, ist verschwunden. Es gibt nur einen einzigen Ausdruck für das gesprochene Wort: das verschwundene Wort. Also: die Niederschrift des Wortes, das gesprochen ist, muß verschwinden.
Frage: Die Worte, die Sie jetzt sprechen, werden nicht gestrichen.
Antwort: Das ist der Mangel dieses Gesprächs.
Frage: Können Sie nicht eine Seite Ihres Romans aus der Hand geben, ehe Sie sie zerreißen?
Antwort: Ich gebe keine unabgeschlossene Seite aus der Hand.
Frage: Es war nicht leicht, Sie zu finden. Warum isolieren Sie sich.
Antwort: Ich gehe jeden Tag in einen Laden und kaufe eine Zeitung. Zweimal wöchentlich gehe ich in eine Kaufhalle und kaufe Lebensmittel, zum Beispiel Brot, Tee, Tabak.
Frage: Haben Sie Kontakt zu Menschen Ihrer Nachbarschaft?
Antwort: Ich treffe auf der Treppe den Hausmeister. Wir grüßen uns und reden über das Haus. Ich treffe auf der Treppe eine alte Frau. Wir grüßen uns und reden über das Alter. Ich sehe jemanden, der aus dem Fenster sieht und nicke ihm zu.
Frage: Ist das Ihre gesellschaftliche Realität?
Antwort: Ja.
Frage: Haben Sie Kontakt zu Kollegen?
Antwort: Selten.
Frage: Zu wem?
Antwort: Zu einem Kollegen, der in der Stadt wohnt. Zu Fuß ist der Weg zu weit. Ich benutze die Untergrundbahn, aber sehr ungern, weil sie unter der Erde fährt.
Frage: Kontakte zu anderen Kollegen haben Sie nicht?
Antwort: Doch. Als ich kürzlich bei dem Kollegen war, der in der Stadt wohnt, klingelte das Telefon. Der Kollege sagte zu dem Anrufer, gerade sei ich zu Besuch gekommen. Der Anrufer, so sagte mir der Kollege, habe geantwortet, Ach, der lebt noch?
Frage: Wie gewinnen Sie Erfahrungen.
Antwort: Ich erinnere mich. Allerdings gebe ich zu, daß mir einige Erinnerungen fehlen. Zum Beispiel erinnere ich mich nicht, einen Menschen getötet zu haben. Denke ich darüber nach, so entsteht die Frage: Habe ich wirklich niemanden getötet oder versagt mein Gedächtnis.
Frage: Aber vor der Erinnerung steht die Erfahrung. Wie wollen Sie sich der Dinge erinnern, die Sie nicht erfahren haben.
Antwort: Wie gesagt.
Frage: Wollen Sie ein Beispiel nennen?
Antwort: Ich erinnere mich, daß ich unter hoher Kuppel an einem Trapez hing. Die Schaukelbewegung machte mir Vergnügen und Angst. Neugierig auf die mögliche Größe des Vergnügens schwang ich mich höher. Mit dem Vergnügen wuchs die Angst. Ich wurde meinen Händen zu schwer. Aber ich konnte nicht aufhören, Vergnügen zu empfinden.
Frage: Wie endete es.
Antwort: Ich erinnere mich nicht.
Frage: Viele Menschen sind besorgt, es könne Krieg ausbrechen. Wie kann ein Schriftsteller für den Frieden wirken?
Antwort: Wessen Frieden meinen Sie?
Frage: Den Frieden aller.
Antwort: Ach, wissen Sie.
Die Anruferin sagte, Weiter.
Einer sagte, An dieser Stelle endet das Interview.
Tja, sagte die Anruferin.
Ich bin müde, sagte Einer.
Halt die Augen offen, sagte die Anruferin.
Ja, sagte Einer.
Er legte den Hörer auf. Ratlos stand er vor dem Telefon. Doch irgend etwas irgendwie sagen, sagte er. Aber das Bedürfnis (das starke, oder das dringende, oder das heftige, oder das passende Attribut fehlt), etwas zu sagen, ohne zu wissen, was jenes Etwas hätte sein sollen (und: wäre es bewußt gewesen, hätte das Wort gefehlt), erschöpfte sich in dem Ausdruck des Bedürfnisses. Obwohl er wußte, daß jenes Etwas mehr war als das Bedürfnis nach dem Ausdruck von etwas.

(1982)

Der Abdruck folgt dem Original von 1987 und entspricht damit nicht den heute gültigen Rechtschreibregelungen.

Sta|pel, der; -s, -: 1. a) [ordentlich] aufgeschichteter Stoß, Haufen einer Menge gleicher Dinge; Menge [ordentlich] übereinandergelegter gleicher Dinge: ein hoher S. Holz, Wäsche; b) Platz od. Gebäude für das Stapeln von Waren. 2. (Schiffbau) Unterlage aus Balken, Holzklötzen od. -keilen, auf der das Schiff während des Baus ruht: *(ein Schiff) auf S. legen; vom S. laufen ([von Schiffen] nach Fertigstellung ins Wasser gleiten); vom S. lassen (1. [ein Schiff] nach Fertigstellung ins Wasser gleiten lassen. 2. ugs. abwertend; etw. von sich geben [was (bei anderen) auf (spöttische) Ablehnung stößt]). 3. (Textilind.) Länge der Faser eines noch zu spinnenden Materials. 4. (im Fell von Schafen) mehrere bes. durch die Kräuselung des Fells verbundene Haarbüschel.

til|gen <sw. V.; hat>: 1. (geh.) als fehlerhaft, nicht mehr gültig, als unerwünscht gänzlich beseitigen; auslöschen, ausmerzen: eine Aktennotiz t.; die Spuren seiner Tat t.; Ü jmdn. aus der Erinnerung t. 2. (Wirtsch., Bankw.) durch Zurückzahlen beseitigen, ausgleichen, aufheben: ein Darlehen [durch monatliche Ratenzahlungen nach und nach] t.; Ü eine Schmach t.

zu|ge|ben <st. V.; hat>: a) [nach längerem Zögern] gestehen: der Angeklagte hat die Tat, das Verbrechen, seine Schuld zugegeben; b) als zutreffend anerkennen, zugestehen: ich gebe zu, dass ich mich geirrt habe; sie gab zu, diese Tatsache verschwiegen zu haben; etw. offen, aufrichtig z.; es war, zugegeben, viel Glück dabei.

ver|sa|gen <sw. V.; hat> [mhd. versagen, ahd. farsagen]: plötzlich aufhören zu funktionieren, nicht mehr seine Funktion erfüllen: der Motor, der Revolver versagte; in der Kurve versagten die Bremsen; seine Muskeln versagten ihren Dienst; ihre Beine, Füße versagen (sie kann ihre Beine, Füße nicht mehr bewegen); sein Herz droht zu v.; vor Aufregung versagte ihre Stimme (konnte sie nicht mehr sprechen); <subst.:> technisches Versagen war schuld am Unfall.

Aus: Hans Joachim Schädlich: Ostwestberlin. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1987. S. 81–98.