Literatur
Helga Schubert
Die Silberkrone
Fortsetzung aus Nr. 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24/2009, 1/2010
Marie liebt Tiere sehr, sagt sie. Wenn sich die kleinen Enten in unseren Garten verirren, holt sie sie wieder und redet mit ihnen: Warum lauft ihr weg. Kriegt ihr bei mir nicht immer gutes Futter. Ja, und damit meint sie eine abseits laufende, ja das gilt auch für dich. Enten, Gänse, Hühner, Kaninchen, Tauben, Bullen, Schweine, ein Pferd, ein Hund, eine Katze. Eine Katze, die mehrmals im Jahr ihre Jungen versteckt. Vergeblich. Diesen Jungen muß auch rübergeholfen werden.
7
Gestern abend klopfte Marie wieder einmal spät und schenkte mir eine Neue Berliner Illustrierte. Eigentlich sollte es eine Berliner Zeitung sein, sagte sie verschmitzt, damit wir erfahren, was inzwischen bei uns zu Hause passierte. Aber mit der IlIustrierten könnten wir vielleicht auch etwas anfangen.
Hast du Tabletten zum Aufstoßen? fragte sie mich dann. Paul liegt im Vorgarten, hat Magenschmerzen, und die Tabletten zum Aufstoßen sind alle.
Es ist spät geworden, erzählte Marie. Denn sie waren zu viert, das alte und das junge Bauernpaar, im Nachbardorf zum Tanz. Dort spielte eine richtige Kapelle und machte Witze. Man konnte lachen. Paul und Marie tanzten auch zusammen. Ging eigentlich noch ganz gut. Und so was muß ja auch mal sein. Marie hatte sich ihre Haare wieder selbst kurz geschnitten. Woher soll sie auch die Zeit für den Friseur nehmen.
Sieht eigentlich ganz vergnügt aus, lebt in der Minute, in der sie gerade lebt, nimmt das Leben, so wie es ist.
Marie zögerte das Gehen noch ein wenig hinaus.
Hast du auch einen kleinen Schwips, fragte ich sie.
Sie lächelte. Du, ich wollte dir schon immer mal was sagen, und nun kennen wir uns doch so lange: Ich hab dich bisher einmal beschwindelt – ich hab nicht den Abschluß der fünften Klasse, sondern den der dritten.
Marie macht eine Pause und sieht mich kurz prüfend an: Wenn du bei Gelegenheit mal in ein Porzellangeschäft kommst, sieh doch bitte nach Fleischtellern und kauf mir welche. Ich will sie nicht geschenkt haben. Ich muß bloß langsam die Silberhochzeit vorbereiten. In anderthalb Jahren. Die silberne Bluse von meiner Schwägerin wird mir ja nicht passen. Von meinen neunzig Kilo komm ich bis dahin nicht runter.
Aber die Silberkrone von ihr hätte ich gern für den Tag. Die Schwägerin hat sie sicher noch. So etwas wirft man doch nicht weg. Man kann es ja auch gar nicht kaufen. Ich glaube, zur Silberhochzeit eine silberne Krone im Haar würde mir stehen. Oder?
Sie würde mich wiegen und pflegen – da war ich mir plötzlich ganz sicher!
Aus: Helga Schubert: Schöne Reise. Geschichten. Aufbau-Verlag,
Berlin und Weimar 1988. S. 54–66, 113–117.
Der Abdruck folgt dem Original von 1988 und entspricht damit nicht den heute gültigen Rechtschreibregelungen.
ver|ir|ren, sich <sw. V.; hat> [mhd. verirren, ahd. farirron]: a) vom Weg, der zum angestrebten Ziel führt, abkommen; die Orientierung verlieren u. sich nicht mehr zurechtfinden: sich im Wald, im Nebel v.; Ü eine verirrte (von der Schusslinie abgekommene) Gewehrkugel; ein verirrtes Schaf (bibl.; ein sündiger Mensch; vgl. z. B. Matth. 18, 12–13); b) irgendwohin gelangen, wohin jmd. gar nicht gelangen wollte, etw. gar nicht gehört: sich in den Sperrbereich v.